Ost New Deal: Für eine neue Industriepolitik in Deutschlands Osten
Messe Hannover. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck lächelt gequält in die Kamera. Dann überreicht er Gunnar Groebler, dem Vorstandsvorsitzenden der Salzgitter AG, einen symbolisch übergroßen Scheck über 999.782.173,87 Euro. Es ist ein Förderbescheid über immerhin knapp eine Milliarde für eines der Zukunftsprojekte der Bundesregierung: grünen Stahl. So soll eine CO₂-arme, wasserstoffbasierte Stahlproduktion angeschoben werden. „Das ist ein entscheidender Schritt auf dem Transformationsweg zu grünem Stahl“, heißt es in der Pressemitteilung des Ministeriums über den wichtigsten Stahlproduzenten der Bundesrepublik. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ist entzückt: „Die gemeinsam von Bund und Land finanzierten Fördermittel sichern die Zukunft der heimischen Stahlproduktion auf Dauer ab.“ Auch der börsennotierte Stahlkonzern ist zufrieden, bezahlt man ihn doch dafür, dass er seine Geschäftsaktivitäten auf klimaneutral umstellt.
Ortswechsel. In Magdeburg soll nicht weniger als die „Reindustrialisierung Ostdeutschlands“ geschehen. Der US-Halbleiterhersteller Intel kündigte vor gut einem Jahr an, südlich der sachsen-anhaltinischen Hauptstadt eine Chipfabrik zu bauen und Halbleiter herzustellen. Das Projekt sollte mit staatlichen Zuschüssen in Höhe von 6,8 Milliarden Euro subventioniert werden. Der Baustart war für 2024 geplant, stockt aber nun, solange der „EU Chips Act“ der Europäischen Kommission, der auf Intels Pläne selbst zurückgeht, nicht beschlossen ist und weitere Staatshilfen freigemacht werden. Intel-Chef Pat Gelsinger hält die Geschäftsaussichten für unsicher und stoppt den weiteren Bau.
Die Entscheidung des Unternehmens für Magdeburg war vor dem Krieg in der Ukraine, den steigenden Produktionskosten und vor allem vor Joe Bidens „Inflation Reduction Act“ (IRA) gefallen. Diese 369 Milliarden Euro schwere industrie- und klimapolitische Initiative aus den USA – eines der größten Subventionsprogramme überhaupt – setzt Europa und Deutschland unter Zugzwang. Unternehmen wie Intel könnten es sich nun anders überlegen und stattdessen ihre Produktion in die Vereinigten Staaten verlegen. Das gibt ihnen eine erhöhte Verhandlungsmacht, auf dem Rücken von Regionen, die auf Arbeitsplätze und Zusagen für die Transformation angewiesen sind.
China gibt in den Chip-Wars den Ton an. Die USA ziehen nach. Und Deutschland?
Der amerikanische Subventionswettlauf hat allerdings nicht nur industriepoliti- schen, sondern auch geopolitischen Charakter. Im Wettlauf mit China – von dem die „chip wars“ einen Teil ausmachen – wollen sich sowohl die USA als auch Euro- pa unabhängiger machen. Das bedeutet zugleich, dass sie ihre Staatsmacht entge- gen der neoliberalen Doktrin erhöhen müssen, weil private Investitionen nicht mit den staatlichen Investitionen mithalten können. Auf eine paradoxe Art und Weise setzt China damit einen Standard, der andere Industrienationen zum Umschwenken zwingt.
Während die USA jedoch auf einen Schlag ein sehr großes Paket verabschiedet haben, tut sich die Europäische Kommission, und besonders Deutschland, ungleich schwerer. Finanzminister Christian Lindner (FDP) hält an der Schuldenbremse fest und will auch die Fiskalregeln auf europäischer Ebene weiter fest angezogen belassen. Damit entzieht er den europäischen Staaten faktisch die Möglichkeiten, große Investitionen zu unternehmen. Der europäische Chips Act wäre dann nur ein kleiner Baustein, aber nicht das ausreichende Paket, das es bräuchte.
Diese kleinen Bausteine sind nicht nur nicht weitgehend genug, sie haben auch ein weiteres Manko: Den Unternehmen werden Subventionen angeboten, um etwa neue Giga-Factories wie in Magdeburg zu errichten, oder ihnen wird wie bei Tesla in Grünheide der rote Teppich ausgerollt, damit Milliardäre wie Elon Musk sich in Brandenburg wohlfühlen, sei es auch auf Kosten der Wasserversorgung in der Region. Im Prinzip werden also trotzdem große Mengen staatlicher Mittel in die Hand genommen, um private Firmen an den Standort zu binden.
Die Ökonomin Daniela Gabor bezeichnet diese Form der staatlichen Investitionen, die nur die Risiken vergesellschaftet, aber nicht die Gewinne, den „kleinen grünen Staat“. Klein, weil er gerade so viel investiert, wie für den Industriestandort notwendig ist. Eine politische Regulierung, soziale Sicherheiten oder gar eine Arbeitsplatzgarantie sind daran aber nicht geknüpft. Die Gewinne aus grünem Stahl, aus Solar- oder Windkraftanlagen, Chipfabriken oder E-Autos bleiben allein bei den Unternehmen und ihren Aktionären.
Milliardengeschenke
Was Deutschland versucht, ist, einen staatlichen Rahmen zu schaffen, der private Investitionen anzieht und private Gewinne ermöglicht. Doch jetzt wird sichtbar: Es handelt sich um eine Form des Ordolibera- lismus, die mit der chinesischen staatlichen Regulierung – und staatskapitalistischer Planung – schlicht nicht mithalten kann. Das müsste man, jenseits von ideologischen Überzeugungen, anerkennen. Auch die keynesianische US-Variante ist – zumindest von ihrem Umfang her – der europäischen überlegen.
Beide eint dennoch ein grundsätzliches Problem, nämlich die fehlende politische Kontrolle über den Produktionsprozess, über die Wahl der Standorte und die sozia- le Absicherung. Diese hängt von der jeweiligen Gewerkschaftsmacht ab und muss je nach Industrie einzeln verhandelt werden, ebenso wie die einzelnen Fördermaßnahmen wie in Salzgitter oder Magdeburg. Das macht die Standorte nicht nur unsicher, es gefährdet eben auch Arbeitsplätze und macht den Standort von den Interessen der Unternehmen abhängig. Dabei sollten systemrelevante Industriebereiche aber gerade in Krisen- und Kriegszeiten nicht von Privatinteressen abhängen, sondern im allgemeinen Interesse reguliert werden.
Der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, Reint Gropp, kritisierte die milliardenschweren Hilfen an profitable Unternehmen wie Intel in Magdeburg oder auch Infineon in Dresden, wo das neue „Solar Valley“ entstehen soll. Man dürfe nicht einfach so Milliardengeschenke verteilen, so der Wissenschaftler, der dafür Kritik einstecken musste. Dabei äußert er nur einen simplen Fakt, nämlich die Unfähigkeit des deutschen
Staates, die Produktion von Schlüsselindustrien der Transformation stärker selbst zentral zu bestimmen. Gerade in der Ampelregierung setzt man aber in grün-gelber Manier auf das Wunder der Marktinstrumente und ist dann überrascht, von Unternehmen erpresst zu werden.
Gerade im Osten Deutschlands ist diese Strategie nach der neoliberalen Schocktherapie der Neunziger nicht nur ökonomisch, sondern eben auch politisch gefährlich.
Erst klemmt Lindner, dann warnt Kretschmer vor dem Niedergang
Wenn Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Heizungsstreit vor einer Deindustrialisierung warnt, spricht er nicht die ganze Wahrheit aus: Industriepolitisch werden nicht einzelne Heizungen, sondern ganze Standorte mit Zukunftstechnologien entscheidend sein. Die aktuelle Debatte blendet die größeren energieintensiven Sektoren und den Investitionsstau schlicht aus.
Er verstellt auch den Blick auf die weitaus größere Diskussion um die öffentliche Daseinsvorsorge und die notwendige ökologische Transformation. Günstiger und nachhaltiger wäre es, eine bundes- oder gar europaweite industriepolitische Strategie zu verfolgen, die Zeitrahmen und Investitionsumfang vorausschauend plant und dabei Regionen und Arbeitsplätze sinnvoll austariert und sichert. In einem solchen Programm wäre auch ein „Ost New Deal“ möglich, der tatsächlich für eine Reindustrialisierung in Magdeburg oder Dresden sorgt und nicht auf einzelne Firmenentscheidungen in Abhängigkeit von den USA angewiesen ist. Nur ein staatlicher Eingriff kann dies in dem Ausmaß bewerkstelligen, der für die Transformation notwendig ist. Ein großer grüner Staat, wenn man so will. Einzig der politische Wille fehlt.