Agenda 2030 verhindern!
Es gab einmal eine Zeit, da wurde Deutschland als der »kranke Mann Europas« bezeichnet. 1999 titelte der Economist damit. Diese Feststellung bereitete zugleich den ideologischen Boden für die Agenda-Politik der 2000er Jahre, in der die rot-grüne Bundesregierung effizienter als alle Konservativen vor ihnen eine Welle der Privatisierung und Deregulierung lostrat. Gerhard Schröder sprach stolz vom größten Niedriglohnsektor Europas. Hartz IV wurde zum Sündenfall der Regierung und stigmatisiert bis heute Millionen Menschen.
Man sollte meinen, von einer Agenda zu sprechen, verbietet sich vor diesem Hintergrund. Doch 25 Jahre später titelt der Economist erneut mit dem kranken Mann Europas, bebildert als grünes deutsches Ampelmännchen. Carsten Linnemann, der neue Generalsekretär der CDU, der genauso gut auch der FDP vorstehen könnte, spricht sogar vom »kranken Mann der Welt«. Die tatsächlichen Einbrüche in den Auftragsbüchern der deutschen Industrie werden erneut zum Vorwand genommen, um eine Agenda 2030 diskursiv ins Spiel zu bringen.
In der Tat: Ein großes Reformprogramm muss her, weil der Umbau der Industrie, des Verkehrssektors, des Wohnungsbaus, der Agrarwirtschaft, des Energie- also im Prinzip jedes Wirtschaftssektors gestaltet werden muss. Im Wettlauf mit China und den USA um Subventionen und staatliche Eingriffe geht es letztlich darum, welche Volkswirtschaft nun am schnellsten diesen Prozess in Gang setzt.
Doch die Frage ist, in wessen Interesse solche Reformprogramme stattfinden. Und eine Agenda 2030 verheißt nichts Gutes. Wenn man der FDP glauben mag, könnten Steuersenkungen und Bürokratieabbau die tatsächlich drohende Rezession abwenden und die Wirtschaft in Schwung bringen. Das ist selbst für eingefleischte Neoliberale ein peinlicher Vorschlag, weil die Infrastruktur – sei es die Bahn, Schulen, öffentliche Dienste – offensichtlich nicht ohne Investitionen gerettet werden können.
Der Vorschlag der Agenda 2030 von Linnemann ist da gefährlicher. Denn er bezieht sich auf die historische Agenda und die Ruck-Rede eines Roman Herzog von 1997 und meint ein ganzes neues Hegemonieprojekt als Auffrischungskur des Kapitalismus. Konkret soll es auch um flexibles längeres Arbeiten und mehr Freiheiten und Subventionen für Unternehmen gehen. Erneut könnte die CDU zum Stichwortgeber für eine Reformpolitik werden, die eine SPD-geführte Regierung letztlich politisch umsetzt. Die Menschen erinnern sich noch sehr genau an den Verrat, den die Agenda-Politik mit sich brachte. Die ökonomischen und politischen Folgen samt des Aufstiegs der Rechten wären fatal.
Die Tragödie: Die wirtschaftlichen Probleme sind real. Doch es ist die Frage, wie sie politisch angegangen werden.
Bei jeder öffentlichen Subvention, bei jeder Steuererleichterung für Unternehmen müssen wir fragen: in wessen Interesse?
Bei der Agenda 2010 verband man das riesige Reformprojekt mit einem wirtschaftlichen Aufschwung, der angeblich allen zugutekommen sollte. Auch die Gewerkschaften waren zunächst dafür. Heute wissen wir, dass die Agenda auf dem Rücken der Beschäftigten stattfand und soziale Garantien nachhaltig abgeschafft hat. Bevor eine Agenda 2030 politisch wirksam werden kann, braucht es deshalb schon jetzt breite Bündnisse und eine politische Linke, die dieses verhindert.
Die aufziehende Agenda 2030 braucht ein Gegenprojekt. Eines, das öffentliche Subventionen an öffentliches Eigentum knüpft, das die Rechte von Beschäftigten stärkt und Standorte sichert. Eines, das massiv in die öffentliche Infrastruktur investiert und Jobs garantiert. In den kommenden Jahren wird es darum gehen, welches Reformprojekt sich durchsetzt. Denn ein Durchwurschteln wird es in der kommenden Transformation nicht geben – es könnte also noch drastischer werden als zu Anfang des Jahrtausends.