13.000 Euro Unterschied nach 33 Jahren

Natürlich ist es verkürzt, die Erfolge einer rechtsextremen Partei nur auf die ökonomischen Bedingungen zurückzuführen. Um den Hang zur Gewalt und autoritären Einstellungen sowie die tiefe Unsicherheit gegenüber allen gesellschaftlichen Veränderungen zu erklären, reicht dieses Deutungsmuster nicht aus. Ebenso falsch wäre aber, die wirtschaftlichen Bedingungen in den Landesteilen, in denen die Rechte besonders erfolgreich ist, bei einer Gesamtbetrachtung zu ignorieren. Zumal immer wieder offensichtlich wird, dass sie für den Aufstieg der AfD eine entscheidende Rolle spielen.

Gerade erst hat das Statistische Bundesamt auf Anfrage der Linksfraktion Zahlen veröffentlicht, nach denen Menschen in Ostdeutschland, auch 33 Jahre nach der Wende, im Durchschnitt immer noch 13.000 Euro weniger verdienen als im Westen. Die Lohnlücke wurde in den letzten Jahren durch Sonderzahlungen, die durch den höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad im Westen verbreiteter sind, sogar noch größer. Das Lohngefälle zwischen reichen und armen Regionen ist frappierend: In Hamburg verdient man für die gleiche Tätigkeit 21.000 Euro mehr als in Mecklenburg-Vorpommern. Bei »Spezialistentätigkeiten« ist laut der Hans-Böckler-Stiftung der bereinigte (also um den Effekt von Sonderzahlungen korrigierte) Lohnunterschied am höchsten.

Offensichtlich liegen die Lebenshaltungskosten in Hamburg deutlich über dem Niveau von Schwerin. Nichtsdestotrotz hat eine Putzkraft in Schwerin genauso mit steigenden Mieten und Lebensmittelpreisen zu kämpfen. Diese Preise gleichen sich nämlich schneller an das Westniveau an als die Löhne.

Auch der Fall Sonneberg, wo sich zum ersten Mal ein AfD-Landrat gegen einen CDU-Kandidaten in einer Stichwahl durchsetzte, offenbart eine typische Wendegeschichte. Denn in Sonneberg ist der Anteil derer, die für den Mindestlohn arbeiten, mit 44 Prozent in der gesamten Bundesrepublik am höchsten. Ein Zusammenhang drängt sich auf. Der Niedriglohnsektor, der während der Agenda 2010 unter Rot-Grün erst geschaffen wurde, ist im Osten nach wie vor besonders stark ausgeprägt. Da helfen auch die 41 Cent mehr Respekt nichts, die die Mindestlohnkommission vor Kurzem gegen die Stimmen der Gewerkschaften beschlossen hat. Angesichts der Inflation und den gestiegenen Preisen kommt dies einer Verhöhnung der Beschäftigten gleich, insbesondere der Menschen, die den größten Anteil ihres Lohns für Miete, Strom und Lebensmittel ausgeben.

Zwar hat sich die Ampelregierung gerade erst dafür gefeiert, dass die Rentenangleichung zwischen Ost und West ein Jahr früher gelang als geplant, doch die realen Renten weisen aufgrund unterschiedlicher Erwerbsbiographien weiterhin deutliche Unterschiede auf. Während die Regierung also die formale Angleichung als Erfolg präsentiert, wird die harte Dissonanz mit dem realen Leben in Ostdeutschland spürbar. Die meisten Menschen verstehen ihren Lohnzettel besser als die Floskeln der Politik und wissen aus Erfahrung ziemlich genau, wann sie übers Ohr gehauen werden.

Mehr als Angleichung West

Die sozialistische Linke ist gut beraten, sich nicht mit solchen bescheidenen Fortschritten zufriedenzugeben. Die Angleichung an den Westen dauert zu lange und der Weg war und ist geprägt von Ungerechtigkeiten, die sich tief ins Bewusstsein der Menschen eingebrannt haben. Mehr zu verlangen ist nach wie vor richtig. Aber was, wenn der Mindestlohn doch auf 14 Euro erhöht wird und die Tarifbindung gesichert ist? Die AfD-Ergebnisse werden nicht auf magische Weise sinken. Die Maßnahmen wären nur erste Schritte auf einem Weg dahin, überhaupt von gleichen Lebensverhältnissen sprechen zu können. Doch die Angleichung an den Westen bedeutete schon immer eine Angleichung an den neoliberalisierten Kapitalismus – mit all seinen gesellschaftlichen Begleiterscheinungen.

Vor wenigen Tagen erklärte Gregor Gysi: »Die AfD tut so, als ob sie ausgegrenzt wird.« Viele Menschen im Osten fühlten sich auch ausgegrenzt, »Also wählen sie eine scheinbar ausgegrenzte Partei«. Seine Erklärung mag ein wenig reduktiv sein, aber ein Stück Wahrheit lässt sich darin durchaus finden. Viele Menschen im Osten fühlen sich seit über drei Jahrzehnten vernachlässigt. Bis vor wenigen Jahren drückte sich dieses Gefühl überwiegend durch die Unterstützung der Linkspartei aus. Heute driften die Unzufriedenen zunehmend nach rechts oder in die völlige politische Passivität.

Die Erfahrung mit der Treuhand und nun mit Subventionsentscheidungen über die Köpfe der Menschen hinweg – ob etwa Intel ein Werk in Magdeburg baut, hängt im Wesentlichen von der Bundesregierung und der EU-Kommission ab – sorgt für ein tiefgreifendes Misstrauen in Institutionen, das durchaus materiell begründet ist. Niemand hat im Osten das Gefühl, über die Höhe des Mindestlohns oder Subventionen für die Region mitentscheiden zu können. Deshalb ist es umso wichtiger, in den Gewerkschaften für demokratische Mitbestimmung und politisch für demokratische Wirtschaftsplanung und -kontrolle zu kämpfen. Die Lohnlücke zu schließen, kann erst der Anfang sein.

Um dem Vormarsch der Rechten im Osten etwas entgegenzusetzen, braucht es ein politisches Projekt für das ganze Land, das den Menschen eine unmittelbare Perspektive anbietet, sichere Arbeitsplätze und Daseinsvorsorge garantiert und gleichzeitig das Gefühl von Teilhabe und Selbstbestimmung vermittelt. Bei allen Abstrichen und Rückschlägen der letzten Jahre bleibt unsere beste Chance, ein solches Projekt auf die Beine zu stellen, nach wie vor der demokratische Sozialismus.

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Dieser Text erschien ursprünglich am 19. Juli 2023 auf der Website des Jacobin.
13.000 Euro Unterschied nach 33 Jahren
Wer sich die Lohnlücke zwischen Ost und West ansieht, darf sich über den Erfolg der AfD nicht mehr wundern.